Auf der Jagd nach dem guten Leben und andere Luxusprobleme.

Was ist das, „das gute Leben“? Die Wissenschaft ist sich einig, dass die Frage nicht pauschal beantwortet werden kann – zu vielseitig sind die persönlichen Vorlieben, Talente und Interessen. Diesem Konsens widerspricht der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa. Seine Kernthese: Wollen wir einen Weg aus der Beschleunigungsfalle finden, müssen wir über das gute Leben reden.

Du bist individuell. Wie jeder in Berlin. 
Ich sitze im Cafè und trinke Kaffee. Das macht man so in Berlin. Ein Mann kommt auf mich zu. Er trägt eine alte Jeansjacke, zerlöcherte Hosen und hat einen Irokesenschnitt. Er fragt mich, ob ich 50 Cent für ihn habe. Ich krame in meiner Tasche. 50 Cent habe ich tatsächlich. Ich gebe sie ihm. Er gibt mir daraufhin drei 10 Cent Stücke und ein 20 Cent Stück. Ich schaue etwas verwirrt. Damit habe ich nicht gerechnet. Warum? Dafür gibt es 3 Gründe:

  1. Der Mann sieht etwas schmuddelig aus: Schwarze Jeansjacke, Irokesen Schnitt, abgenutzte Sneaker. Das muss ein Obdachloser sein, denke ich.
  2. Seine Formulierung “Haben Sie vielleicht 50 Cent?” ließ mich schlussfolgern, dass seine Intention nicht das Wechseln von Kleingeld ist.
  3. Weil ich offensichtlich zu der Sorte Mensch gehöre, die sich vom äußerlichen Erscheinungsbild anderer Menschen beeinflussen und zu vorschnellen Urteilen hinleiten lassen. Ich schäme mich ein wenig.

Letzter Grund gab mir zu denken. Bin ich nach drei Jahren Berlin, 26 Kurkuma-Lattes und 80 Yoga-Sessions auch zum Opfer der urbanen Hipster-Blase geworden? Bin ich auch einer der Menschen, die denken: “Du bist so individuell.” Wie jeder in Berlin.

Wegschauen ist wie Hinschauen, nur krasser. 
Gestern streitet sich ein junges Paar lauthals in der U6. Der Typ drückt seine Freundin unsanft gegen die Glasscheibe. Beide sind offensichtlich betrunken. Ich schaue mich um. Keiner scheint die Konversation mitzubekommen. Zumindest schließe ich darauf, da das manische Starren auf Displays allgemein bekannt zu einem gesellschaftlichen Code für “sprich mich nicht an” oder “ich kriege nichts mit” geworden ist. Funktioniert auch immer, wenn ein Obdachloser die motz verkaufen will, ein Musiker-Trio notdürftig die ersten 12 Takte von “Hit the road Jack” spielt oder sich eben irgendwo ein Streit anbahnt. Schnell ganz wichtig etwas ins Smartphone eintippen, dann weiß jeder, dass ich unpässlich bin. Ich stelle mir dann immer vor, wie Menschen nur um beschäftigt auszusehen ihren Wecker einstellen, etwas Sinnloses in die Tastatur eintippen oder den letzten Verlauf auf WhatsApp nochmal lesen. Wie konnten die Menschen damals U-Bahn fahren, wo es noch kein Display als Realitätsflucht und gelegene Ausrede gab, ohne als asoziale Mitbürger abgestempelt zu werden? Ich stelle eine Hypothese auf: Sie waren einfach netter und sozialer, weil sie es mussten.

So mancher fragt sich: “War das schon alles? Könnt, ja noch was Besseres geben.”

Diese Frage ist nicht nur beim Dating-Alltag in Berlin prominent. Beim Einkaufen müssen wir uns zwischen 38 Shampoo-Sorten entscheiden und an der Humboldt Universität in Berlin gibt es 223 Studiengänge. Die Masse an Optionen scheint Aushängeschild für ein neues Zeitalter zu sein. So richtig nach ankommen fühlt sich das alles nicht an. Bei meinen Eltern war das noch anders: Weniger Möglichkeiten, mehr echte Probleme. Nach dem Sinn des Lebens zu fragen, bleibt wohl ein Luxus, der uns “Millennials” vorbehalten bleibt. Ob das so gut ist, sei dahin gestellt. In der Nachkriegszeit war der Sinn des Lebens, dass man was zu spachteln hatte. Der Luxus sich zu erlauben, zu fragen “Wofür bin ich auf der Welt?” kam da gar nicht auf. Ist es also Langeweile, die uns an unserer Existenz zweifeln lassen? “Wenn du anfängst, dich zu langweilen, solltest du etwas anderes machen mit deinem Leben” – so oder so ähnlich trichtern es uns die Medien ein.

Unser Weltreichweitenerweiterungsprogramm.
Der Generation Y liegt die Welt zu Füßen. Noch nie war es so einfach und billig, zu reisen. Lonely Planet und das Angebot im Internet lassen wenig Platz für Abenteuer und gefährliche Expeditionen, wie man sie aus der National Geographic von 1965 kennt. Als Backpacker von Hostel zu Hostel jagen, je mehr Länder und Stempel im Pass, umso besser – der perfekte Sonnenuntergang für Facebook und die Insta-Story. Weil ohne macht es ja keinen Sinn. Globehopping statt Globetrotting.

Das ganze Programm zur Weltreichweitenerweiterung ist eine niemals endende Aufwärtsspirale. Als Kleinkinder entdecken wir die Welt um uns herum zu Fuß, die Reichweite ist begrenzt. Zuerst erkunden wir den Spielplatz um die Ecke, später mit dem Fahrrad den Wald am Stadtrand und dann mit 16 mit dem Moped zu einer Schlägerei ins Nachbardorf. Und so weiter und so fort…Entscheidend ist für Hartmut Rosa in dieser Spirale die Weltbeziehung des Individuums: Erfährt es Resonanz oder steht es entfremdet in einer abweisenden, stummen Welt? Genau diese Tatsache bemängelt er auch an unserem Bildungssystem, das von ökonomischer Zeitkompression und überholten Lehrplänen geprägt ist. Bildungsinstitutionen sind auf Kompetenzbildung, aber keine Weltbeziehungsförderung ausgerichtet. Das heiß konkret: ich lerne Englisch, um mir die englische Welt zu erschließen. Für die Gewinner in diesem System erweitert sich somit das Resonanzfeld, für die Verlierer kommt es zur Entfremdung.

Meinst du, die Welt erwartet etwas anderes von dir? 
Die meisten möchten etwas Wichtiges tun in ihrem Leben. Und dann gibt es da diese Lücke: Wissenschaft, Religion und Medizin liefern viele Antworten. Aber eben nicht Antworten auf alles: Was ist der Sinn des Lebens? Wozu sind wir hier? How much is the fish? Manche füllen diese Lücke mit einem Kind, einem teuren Sportwagen, einem noch teureren Hobby oder einer spirituellen Weltreise. Vielleicht geht es ja am Ende gar nicht darum, einen Plan zu haben. Das Leben hält sich ja doch nicht daran. Ich würde mir wünschen, dass wir nicht länger in einer Gesellschaft leben, in der ein 55-jähriger Mann sagen muss: “Noch 10 Jahre schaffen, dann fängt mein Leben richtig an.”

Mensch, komm ma’ runter. 

Seien wir doch mal ehrlich, wir alle zimmern uns unsere Relevanz und Daseinsberechtigung zusammen, wie sie uns passt. Sei es nun Selbstinszenierung, Narzissmus oder der pure Drang nach Anerkennung: Der Mensch ist ein Naturwesen und wird in seinem Handeln von vielfachen natürlichen Prozessen beeinflusst. Manchmal lohnt es sich tatsächlich dankbar zu sein, für die Dinge, die man bereits hat. Wir sollten nicht erst die Welt bereisen müssen, um das Privileg von Heimat, Demokratie und Sicherheit wertschätzen zu können. Ein guter Anfang wäre es,

  • Sich selbst nicht so wichtig zu nehmen
  • Dankbarkeit zu zeigen für kleine Dinge
  • Nie die Neugier zu verlieren – denn ohne Neugier lernen wir nichts mehr dazu
  • Fehler zuzulassen und zu machen
  • Lernen, sich selbst zu lieben.

 

Foto: Luca Bravo – unsplash

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